Einmal in Belgorod (Teil 2)
Die Tage in Belgorod waren beschaulich und spätsommerlich. Da war keine Hektik, kein aufgedrehtes Getue. Morgens ab acht legte ich mich ein paar Stunden ins Zeug, gab die Kurse. Nachmittags ab zwei, drei war frei. Zeit für einen Stadtbummel. Oder eine Spritztour mit der Klapperkiste, sie hatten das Werkzeug vom Rücksitz eins weiter nach hinten geschmissen, in den Kofferraum, da klapperte es lustig weiter. Wir quetschten uns rein, meistens zu dritt, einmal zu viert, das war eng.
In China bin ich verdammtnochmal besser gefahren. Bequemer. Und habe dafür noch weniger geackert, in den letzen drei Jahren bloß noch von Montag bis Mittwoch, morgens von acht bis zwölf, manchmal eine Nachmittagsstunde mit meinen drei chinesischen Kolleginnen, wir lasen Franz Böni, ein paar andere Schweizer, Österreicher, Erzählungen von Kafka. Dazu gab es hausgemachte Frühlingsröllchen mit allerlei Füllung. Lecker. Beste Lehrerinnenfortbildung aller Zeiten.
In Belgorod besorgte ich mir nach dem Stadtbummel im Konsum Kaviar in nicht zu kleinen Dosen, dazu Wodka aus der Taiga, Brot, Joghurt, das Bier zum Runterspülen. Also das Nötigste. Von den Kolleginnen bekam ich mal einen Apfel, mal eine Gurke zugesteckt, direkt aus der Datscha.
Ich stand oft am Fenster. Unten im Hof immer dieselben sechs, sieben Hanseln um den alten Karren herum. Die Szene versteinerte zum Monument. Sie ließen die Flasche kreisen. Ich prostete ihnen mit meiner Flasche aus dem achten Stock zu, durch das Fliegengitter hindurch, über den Taubenschiss auf der Fensterbank hinweg. Hallo Jungs, eure Lebenseinstellung gefällt mir, sie führt zu nichts, das kommt meiner Einstellung recht nahe!
Doch keiner von ihnen schaute herauf, sie waren ganz bei sich selbst.
In der Zimmerecke der Fernseher. Eine Spielshow mit viel Klamauk. Die Nachrichtensprecherin. Hübsche Aufmachung, genau wie bei uns. Manchmal schlug ich zur Klärung des Bildes mit der Hand aufs Gehäuse. Es wirkte. Durch das Fenstergitter hindurch ging der Blick raus in die Ebene. Da lag Woronesch, da ganz weit hinten floss der Don, dahinter lag Usbekistan. Die unendliche Steppe. So nah, so weit weg.
Ich weiß noch, wie ich am Fenster tief Luft holte. Die russische Seele. Sie hat mich angehaucht.
Sagt man nicht: inspiriert? Jedenfalls kann ich mir Europa nicht ohne sie vorstellen.
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