(2)
Dieses Lied:
Krieg ist Musik in meinen Ohren
Draußen vor dem Fenster meiner Kinderstube stand ein Kastanienbaum, er grüßte herein und behütete mein Krabbeln und Brabbeln im Laufstall. Als ich im Herbst 1950 drei Jahre alt wurde, ging ich raus, sammelte Kastanien ein und sah zu, wie sie nach und nach verschrumpelten. Abends kam die Mutter ans Bett, erzählte eine Geschichte oder sang ein Lied. Die Geschichten habe ich längst vergessen, die Lieder nicht, sie klingen bis heute.
Das nennt man Resonanz. Es ist ein Widerhall, und ein Widerhall ist etwas Gegenläufiges, gegenläufig zur Sprachrichtung. Er steigt den bloßen Worten entgegen aus dem Inneren auf und kommt über Kehlkopf und Stimmritze auf die Zunge, zuletzt über die Lippen, dann an ein Ohr, und von da geht's ein in den Klangkörper, in sein Gedächtnis.
Von den Abendliedern der Mutter hat mich eins sofort fasziniert, da klang nämlich Krieg an, Verwüstung: Maikäfer flieg // Dein Vater ist im Krieg // Deine Mutter ist in Pommernland // Pommernland ist abgebrannt // Maikäfer flieg.
Kinderlied. Kriegslied. Volkslied.
Und im Kindergarten: Fuchs, du hast die Gans gestohlen // Gib' sie wieder her // Sonst wird dich der Jäger holen // Mit dem Schießge-we-he-her...
Das Schießgewehr. Es hat mich gleich getroffen. Später hat sich ein Wort dazugeladen wie eine Patrone in den Lauf des Lebens: Schießprügel.
Das Leben. Eine gottverdammte Schießprügelei.
Und die Mutter aller Schießprügel: Die USA. Sie hat mir das Nachkriegslied gesungen.
Das ist die Resonanz. Deshalb singe ich: Krieg ist Musik in meinen Ohren. Sonst hätte ich diese Geschichte längst vergessen.
Europa den wahren Europäern!
Ich bin kein Europäer. Oder doch? Bin doch bloß ein alter Sack. Wohne behaglich am Ettersberg über Weimar, ein Stück unterhalb des Buchenwald KZ. Ein Alter vom Berg wäre ich gerne, einer, dem Sektierer folgen, Häretiker. Eine Gruppe, die Europa hinter sich bringt. Statt Europa aufzubringen gegen sich selbst. So wie man einen Standpunkt, einen unerschütterlich festen, hinter sich bringen muss, wenn man die Freiheit erahnen möchte, die hinter den Überzeugungen liegt wie hinter himmelhoch jauchzenden Fels-Ungetümen. Europa! In Europa herrscht jetzt die Multitude, eine Menge Mixtur, Mischung bis rein in die Kochtöpfe. Man nennt das Prahme. Tausend Plateaus herrschen, das nackte Alles-Geht ist Fakt, das Nichts-ist-unmöglich von Toyota. Was früher Wunschtraum war, ist endgültig Wirklichkeit geworden. Und Alptraum. So bin ich kein Europäer, kann keiner sein. Da wächst ein Unbehagen. Ich befinde mich nicht in der postkolonialen Situation. Finde mich da nicht ein, finde mich damit nicht ab....
Kommentare
Kommentar veröffentlichen